von Hans-Joachim Schott
Die postmoderne Erfahrungskonstellation ist für progressive Politiken eine ambivalente Angelegenheit: Sie ist einerseits ein Ärgernis, weil die Zunahme von Pluralität, Heterogenität und Partikularität in den sozialen Interaktionsstrukturen die Möglichkeiten für die Koordination kollektiver Interessen massiv schwächt (erkennbar an der Krise starrer Organisationen wie den Gewerkschaften oder den politischen Parteien). Andererseits ist sie ein großes Versprechen, weil sie die Emanzipation des Subjekts mit seinen individuellen Zielen, Wünschen und Träumen nicht in eine ferne Zukunft aufschiebt, sondern ihr im Hier und Jetzt Geltung zu verschaffen versucht. Wie Jean-François Lyotard in seinem immer noch lesenswerten Bericht Das postmoderne Wissen herausstellt, ist diese Erfahrungskonstellation aus der fundamentalen Krise der beiden großen Fortschrittserzählungen der Moderne entsprungen. Sowohl das Narrativ der Emanzipation, das die Befreiung des Menschen aus Unterdrückung und Ausbeutung verheißt, als auch das Narrativ des absoluten Wissens, das vom Glauben an die Bildungsfähigkeit des Menschen getragen wird, geraten spätestens ab der Epochenwende um 1900 unter einen starken Legitimationsdruck, da ihre Versprechungen in einem eklatanten Widerspruch zur fanatischen Brutalität und Gemeinheit derjenigen stehen, die ihre politischen Vorhaben und Ideologien durch den Rekurs auf die beiden Narrative rechtfertigen. Der Sowjetkommunismus ist für diese Problematik ein schlagendes Beispiel: Mit einer pathologisch anmutenden Leidenschaft kämpfen wild entschlossene Revolutionäre für ein in seiner Naivität fast schon rührendes Ideal, nämlich für die Befreiung der Massen von der Knechtschaft des Kapitals, ein Ideal, das selbstverständlich jegliche Form der Gewaltausübung legitim erscheinen lässt. Und was erreichen die kommunistischen Revolutionäre? Stalin als durch und durch paranoischen Machthaber in einem totalitären Herrschaftssystem, das eine von Opportunismus, Zynismus und Korruption durchdrungene Kaste von Parteifunktionären und -intellektuellen zum End- und Zielpunkt der Geschichte erklärt. Aber die Kommunisten kämpfen nicht nur für das ‚Gute‘, ‚Gerechte‘ und die ‚Befreiung‘, sondern sie tun dies auch auf Basis der einzig wahren Wahrheit, niedergelegt von den Klassikern des Marxismus in Form des historischen Materialismus. Wie wird diese einzig wahre Wahrheit gesellschaftliche Wirklichkeit? Natürlich wiederum in Stalin, der als oberster Führer der Revolution das Monopol über die korrekte Erkenntnis der Wirklichkeit okkupiert. Wenn die Dinge so verflucht falsch laufen, ist es mehr als verständlich, dass Philosophen wie Lyotard den sich am Übergang vom Fordismus zum Postfordismus abzeichnenden Kollaps der Metanarrative und Metasprachen als Chance für ein freies, leidenschaftliches, ungebundenes Experimentieren mit Lebensweisen, Ästhetiken und Theorien werten. Die Befreiung von den Zwängen totalisierender Narrative soll eine wissenschaftliche, künstlerische und institutionelle Kreativität freisetzen, die keine Scheu vor dem Gebrauch ‚unsauberer‘ Denk- und Sprachoperationen wie Paralogismen oder Paradoxien hat, da sie nicht auf die Herstellung eines transparenten Diskurses, sondern auf die Störung verknöcherter, bürokratischer, asketischer Herrschaftsstrukturen zielt.
So sympathisch Lyotards Plädoyer für ein leidenschaftliches, intensives Denken auch ist, so leidet es doch an einer gewissen Ratlosigkeit in Bezug auf die Frage, wie sich den neuen, ‚smarten‘ Formen von Macht und Herrschaft eine wirksame Opposition entgegensetzen lässt. Wie er mit Blick auf Niklas Luhmanns Systemtheorie herausstreicht, begründen die lustfeindlichen Technokraten der Macht seit der Postmoderne ihren Herrschaftsanspruch nicht mehr durch die Manipulation von Fortschrittserzählungen, sondern durch eine zwar bis zur intellektuellen Schmerzgrenze banale, aber dafür durchschlagend effektive Ideologie, die an nichts anderem mehr als an der konsequenten Durchökonomisierung aller sozialen Beziehungen interessiert ist. Diese Herrschaftsideologie erlaubt selbstverständlich leidenschaftliche, individualistische Lebensweisen, ja prämiert sie sogar, solange sie sich nur dem Zwang zur marktkonformen Profitmaximierung beugen. Die (ökonomische) Macht unterdrückt nicht mehr den Wunsch nach einem intensiven Leben, sondern stilisiert ihn zu einer Marke, die singuläre Leidenschaften standardisiert und als genormte Konsumgegenstände in den Warenkreislauf einspeist. Wir alle suchen den einzigartigen Trip, auf dem wir mit Hilfe von Lonely-Planet-Reiseführern Orte entdecken, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat – und finden dort natürlich Massen von Touristen, die exakt das gleiche Erlebnis konsumieren. Herrschaft in der Postmoderne funktioniert, kurz gesagt, über den Mechanismus des ‚Branding‘, das heißt über die mit unnachgiebiger Propaganda betriebene Einführung von Markennamen, die stabile Muster in das von flüchtigen Intensitäten besiedelte Feld der Konsumentenwünschen einbrennen und so deren effektive, marktkonforme Verwertung sicherstellen.
Um diesem Herrschaftsregime mehr entgegenzusetzen als die von Lyotard favorisierte Kreativität verstreuter Minderheiten mit ihren ‚kleinen‘ Erzählungen und flüchtigen Institutionalisierungsformen, bemühen sich sehr unterschiedliche Denkströmungen seit den achtziger Jahren um eine reflektierte Wiederaufnahme der großen Fortschrittserzählungen. Während lediglich vereinzelte Philosophen (zum Beispiel Vittorio Hösle oder Herbert Schnädelbach) in Auseinandersetzung mit G.W.F. Hegel das Narrativ des absoluten Wissens zu revitalisieren versuchen, schreibt eine Vielzahl von Denkschulen das Narrativ der Emanzipation fort. Dazu kurz vier Beispiele, die lediglich schlaglichtartig wichtige Reaktionen auf die postmoderne Infragestellung der großen Narrative erhellen sollen, aber natürlich nicht das gesamte Diskursspektrum abdecken können (messianische Politikansätze, wie sie von Giorgio Agamben und Tiqqun vertreten werden, fehlen in der folgenden Aufstellung ebenso wie die Bemühungen um die Demokratisierung der Wissenschaften, wie sie sich exemplarisch bei Paul Feyerabend finden):
- Für Jürgen Habermas ist die Fortschrittserzählung des Marxismus durch ihre Fokussierung auf das Phänomen der Arbeit in die Krise geraten, die sich aber seiner Einschätzung nach durch eine Besinnung auf die universelle und rationale Struktur menschlicher Kommunikation überwinden lässt. In einer von Konsensorientierung getragenen transnationalen Öffentlichkeit, wie sie laut Habermas in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union entstehen könnte, sollen die Herrschaftsstrukturen des postfordistischen Kapitalismus kritisch reflektiert und schließlich beseitigt werden.
- Um die vielfältigen Diskriminierungserfahrungen von Minderheiten nicht wie im Marxismus im Klassenproblem aufgehen zu lassen, sondern ihre spezifischen Ursachen und Merkmale (Rassismus, Behindertenfeindlichkeit, Sexismus etc.) zu erfassen, setzen progressive Politikansätze (wie zum Beispiel der Feminismus oder der Postkolonialismus) seit den achtziger Jahren verstärkt auf die Erfahrung des Opfer-Seins. Marginalisierte Minderheiten sollen dabei unterstützt werden, ihre Diskriminierungserfahrungen zu artikulieren, damit sie im nächsten Schritt eine rechtliche Anerkennung ihres Opfer-Status und die damit zusammenhängenden Entschädigungsleistungen beanspruchen können.
- Populistische Strategien, die vor allem von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe im Rückgriff auf Antonio Gramscis Hegemonietheorie und Bausteinen der lacanianischen Psychoanalyse als Möglichkeit linker Politik theoretisch fundiert wurden, operieren mit der symbolischen Konstruktion eines niederträchtigen Gegners, dessen unerträgliche Abscheulichkeit die verstreuten, unkoordinierten Minderheiten mit ihren divergierenden Interessen zu einer schlagkräftigen Einheit zusammenschweißen soll. Die Minderheiten versammeln sich nicht mehr im Zeichen einer Erzählung, die auf den Fortschritt der Menschheit ausgerichtet ist, sondern im Bewusstsein einer drohenden Apokalypse, die eintritt, sollte der verachtete Gegner die politische Macht übernehmen.
- Schließlich lässt sich die postmoderne Krise der Metanarrative auch von der humorvollen Seite nehmen, indem man – wie dies Francis Fukuyama in den neunziger Jahren tut – den Liberalismus als End- und Zielpunkt der Geschichte ausgibt. Große Narrative mit utopischen Versprechungen für eine ferne Zukunft sind demnach überflüssig, weil das Subjekt laut Fukuyama im angelsächsischen Modell eines mehr oder weniger ungezähmten Kapitalismus das Maximum möglicher Anerkennung realisiert und damit kein Interesse mehr an der utopischen Transzendierung des Status quo besitzt.
Keiner dieser Ansätze kann meiner Einschätzung nach die Legitimierungsdefizite der beiden großen Fortschrittserzählungen nachhaltig bewältigen: Die offenkundigen Schwierigkeiten, eine europäische Öffentlichkeit und ihr entsprechende Institutionen (Medien, Politik) zu konstituieren (von einer globalen Öffentlichkeit mit einer konsensorientierten Diskurskultur ganz zu schweigen), sowie die ungebremst wachsende Bürokratisierung politischer Entscheidungsprozesse lassen an Habermas‘ Vertrauen in die zivilisierende Macht des rationalen Diskurses zweifeln. Die allgegenwärtigen Opferpolitiken leiden an der ihnen inhärenten Problematik der Intersektionalität, also der Überschneidung von verschiedenen Diskriminierungsdynamiken, die nicht nur einen ruinösen Wettbewerb um das größte Maß an erlittener Ausgrenzung stimuliert (was ist es schon wert, als Frau diskriminiert zu werden, wenn eine kombinierte Diskriminierung aus rassistischen, sexistischen und klassenbezogenen Gründen möglich ist), sondern auch tragfähige Solidarisierungsstrukturen zwischen den marginalisierten Minderheiten blockiert. Auch der Populismus hat längst seine Unschuld verloren, weil er sich als attraktive Strategie für rechtsradikale bzw. rechtsextreme Bewegungen erwies. Da der symbolische Platz des verachtenswerten Gegners, gegen den sich die versprengten Interessengruppen vereinen, leer ist, kann er von einer Vielzahl von Platzhaltern besetzt werden, die ihre Funktion am besten erfüllen, wenn sie in intellektueller Hinsicht beliebig, das heißt oberflächlich und wenig durchdacht sind (wie das einfältige linkspopulistische Konstrukt des ‚alten, weißen Mannes‘ beweist). Es können aufgrund dieser Beliebigkeit auch die ‚europäisch-liberalen Eliten‘ diesen Platz einnehmen, gegen die die populistische Rechte mit großem Erfolg zu Felde zieht. Schließlich war es für brillante Zyniker wie Samuel Huntington keine große Herausforderung, den Glauben an das Ende der Geschichte als Naivität zu diskreditieren, denn dass der Liberalismus die hegemoniale Ideologie des 21. Jahrhunderts sein wird, ist angesichts der bislang ausgebliebenen Demokratisierung islamisch geprägter Staaten sowie dem Aufstieg Chinas zur neuen Supermacht mit einer extrem illiberalen Agenda alles andere als sicher.
Mich interessieren in diesem kurzen Essay aber nicht die strukturellen Schwachpunkte dieser unterschiedlichen Reaktionen auf die Krise der großen Narrative, sondern ihre beschränkte Perspektive auf die postmoderne Erfahrungs- und Diskurskonstellation, als deren vielleicht wichtigstes Merkmal die Skepsis gegenüber der universellen Struktur der Vernunft und entsprechenden Fortschrittserzählungen gilt. Nun ist diese Skepsis ohne jeden Zweifel von großer Bedeutung für prägende Intellektuelle der Epoche wie Georges Bataille, Pierre Klossowski, Michel Foucault, Jean Baudrillard, Gilles Deleuze oder Lyotard, jedoch durchzieht deren Texte auch ein Narrativ, das im Hinblick auf seinen Erklärungsanspruch keineswegs hinter dem Narrativ der Emanzipation bzw. des absoluten Wissens zurücksteht. Ich nenne es das Narrativ der Leidenschaften. Aus dem Blickwinkel diese Narrativs ist das Subjekt (und mit ihm das gesamte gesellschaftliche Feld) von einer irreduziblen Intransparenz geschlagen, die aus der unüberbrückbaren Spaltung zwischen Leidenschaften bzw. Affekten auf der einen Seite und der bewussten Ordnung rational rekonstruierbarer Interessen / Ziele auf der anderen Seite entspringt. Diese Intransparenz des menschlichen Begehrens erscheint im Narrativ der Leidenschaften auf völlig andere Weise als im Narrativ der Emanzipation bzw. des absoluten Wissens. Aus Perspektive einer emanzipatorischen Erzählung erblickt das politische Subjekt eine in Ausbeuter und Ausgebeutete bzw. Herren und Knechte gespaltene Gesellschaft, deren antagonistische Struktur durch die Abschaffung der herrschenden Machtverhältnisse überwunden werden soll. Die Unterdrückten können diesen Kampf nur gewinnen, wenn sie sich praxisorientiertes Wissen aneignen, das sie ihre legitimen (Klassen-)Interessen erkennen lässt. Es besteht also in der Logik dieses Narrativs ein Mangel an Wissen, den es zum Beispiel durch politische Agitation oder Aufklärung auszugleichen gilt. Im Narrativ des absoluten Wissens herrscht ebenfalls diese Denkfigur vor, nach der die Subjekte an einem Mangel an Wissen leiden, der durch die Bildung des Geistes beseitigt werden soll. Diese Bildung zielt jedoch nicht primär auf politische Freiheit, sondern auf die Selbstreflexion des Geistes, die als Selbstzweck betrachtet wird und daher aus den beschränkten Interessen der politischen Praxis herausgelöst werden soll. Im Narrativ der Leidenschaften lässt sich die Spaltung des Subjekts hingegen weder durch eine politische Emanzipation noch durch die Selbstreflexion des sich bildenden Geistes aufheben, da sie als elementares Wesensmerkmal der Subjektkonstitution selbst erscheint. Kämpfen zum Beispiel Revolutionäre für die Gleichheit der Menschen und die Abschaffung von hierarchischen Machtbeziehungen, stellt sich aus Perspektive des Narrativs der Leidenschaften umgehend die Frage, welche (unbewussten) Affekte und Wünsche die Subjekte zu ihrem Kampf treiben. Wollen sie, dass alle Menschen in Freiheit glücklich leben können (wie sie es natürlich behaupten)? Oder geht es ihnen in Wahrheit um die Auslöschung von Unterschieden und um das wenig humane Ziel, dass alle Menschen gleich unglücklich sind. Und wenn sie wie zum Beispiel die Stalinisten oder Maoisten mit extremer Leidenschaft das größtmögliche Unglück für die größtmögliche Zahl von Menschen herbeizuführen versuchen, welche unverarbeiteten und unbewussten Triebkräfte an Selbstzerstörung bevölkern dann die Affektlandschaft dieser Menschenfeinde und wie lassen sie sich therapieren? Sicher nicht durch eine Bewusstwerdung der eigenen Interessen (oder Klasseninteressen), die ja als Deckung oder Vorwand für das Ausleben von (auto-)destruktiven Affekten dienen, sondern durch die Analyse und Bearbeitung von Hemmungen, Blockaden und Konflikten, die aus dem Widerstreit von Leidenschaften hervorgehen. Im Narrativ der Leidenschaften stößt man also nicht auf einen Mangel an Wissen, der sich durch ein ‚Mehr‘ an Wissen beheben ließe, sondern auf Störungen des Affekthaushalts (das heißt auf Ressentiments, Schuldgefühle und Depressionen), die das Subjekt seine eigene Unterdrückung wünschen lassen.
Lässt sich dieses Narrativ, das die Fortschrittsversprechen der Emanzipation bzw. des absoluten Wissens ablehnt, als modern bezeichnen? Oder ist es wie die Narrative der populistischen Rechten von einem fragwürdigen Anti-Modernismus erfüllt, der das historische Bewusstsein zugunsten einer reaktionären Feier des Mythos suspendiert? Hinter diesen Fragen steht meiner Einschätzung nach ein mehr als beschränktes Verständnis von Modernität, das ästhetisch-expressive Geltungsansprüche ignoriert und nur die kognitiv-technische Erkenntnis (Narrativ des absoluten Wissens) bzw. moralisch-rechtliche Normativität (Narrativ der Emanzipation) als konstitutiv für moderne Gesellschaftsformationen anerkennt. Die Geschichte des europäischen Denkens in der Neuzeit und Moderne wäre aber eine furchtbar armselige Angelegenheit, wenn nicht immer wieder vor dem Hintergrund ästhetischer Erfahrungen und eines therapeutischen Interesses an den menschlichen Leidenschaften und Affekten die großspurigen Versprechungen der kognitiv-technischen bzw. moralisch-rechtlichen Wissenskomplexe hinterfragt worden wären. In diesem Sinn befragt Baruch Spinoza Thomas Hobbes‘ Konstrukt eines Naturzustandes, in dem die Menschen von einer alles verzehrenden Paranoia erfüllt sind, indem er ein komplexes Kalkül der Leidenschaften entwickelt, das eine therapeutische Bearbeitung der von Hobbes als ‚natürlich‘ deklarierten Ängste ermöglichen soll; Arthur Schopenhauer entdeckt in Immanuel Kants moralischem Ideal eines Gesetzes der praktischen Vernunft, das jenseits aller Affekte nichts anderes als Achtung zu beanspruchen scheint, einen vom Willen getriebenen Narzissmus, der das Subjekt aus vordergründig moralischen Handlungen ein ‚perverses‘ und verstörend intensives Genießen ziehen lässt; Friedrich Nietzsche zerstört die idealistische Selbstüberhöhung der universitären Organisation der Wissenschaften, indem er hinter der Neutralität und Sachlichkeit der Forschenden einen lebensfeindlichen Asketismus erkennt, in dessen Sterilität sich eine nihilistische Entwertung aller leidenschaftlichen Aktivitäten (Tanzen, Spielen, Lachen) niederschlägt; und schließlich beendet Sigmund Freud die moralische Heuchelei, indem er die pathologische Dimension des Gewissens und des Schuldgefühls herausstreicht, deren Unerbittlichkeit die Sexualfunktion massiv schädigt und einschränkt. Alle diese kritischen Einsprüche gegen die Einseitigkeiten der wissenschaftlich-technischen Erkenntnis bzw. moralisch-praktischen Normativität sind ohne den Bezug auf das Narrativ der Leidenschaften undenkbar. Natürlich wird dieses Narrativ niemals ‚rein‘ entfaltet. Es existiert lediglich eine Vielzahl verwandter Narrative, die auf ähnliche Weise von den menschlichen Leidenschaften und Affekten erzählen und ihnen einen Sinn zu geben versuchen. Von einem Narrativ der Leidenschaften zu sprechen, ist also eine Abstraktion – genauso wie es eine Abstraktion ist, von einem Narrativ der Emanzipation bzw. des absoluten Wissens zu sprechen. Es ist aber eine sinnvolle Abstraktion, weil sie erlaubt, einen Unterschied zu setzen, der den Unterschied macht. Gegen die bei Lyotard spürbare Tendenz, die Moderne in der Dynamik der kognitiv-technischen Erkenntnis und moralisch-rechtlichen Normativität aufgehen zu lassen und ästhetisch-expressive Wissensformen als marginalisierte, ‚kleine‘ Alternativen zum einseitigen Rationalismus der globalen Fortschrittserzählungen zu präsentieren, betont die Rede von einem Narrativ der Leidenschaften dessen große Reichweite und umfangreichen Erklärungsanspruch, die es – wie abschließend ein kurzer Blick auf das Denken von Deleuze zeigen soll – mit den beiden anderen Metanarrativen in Konkurrenz treten lassen.
In seiner frühen Monographie Nietzsche und die Philosophie entwickelt Deleuze in einer für die postmoderne Theorie wegweisenden Neuinterpretation von Nietzsches Texten ein mächtiges Metanarrativ, das seinen späteren Arbeiten zur Logik (Differenz und Wiederholung), zur Subjektbildung (Logik des Sinns) und zur Universalgeschichte (Anti-Ödipus) ihre grundlegende Richtung geben wird. Im Anschluss an Nietzsche betrachtet Deleuze die Moderne als Gipfelpunkt des tief in den abendländischen Metaphysik- und Religionstraditionen angelegten Nihilismus, der sich in einer vom Ressentiment geleiteten Entwertung des Lebens manifestiert. Dieser Nihilismus ist aber keine abendländische Spezialität (auch wenn er sich hier besonders stark niederschlägt), sondern ein universelles Phänomen, da für Deleuze wie für Nietzsche die gesamte menschliche Gattungstätigkeit von depressiver Lebensverneinung bestimmt wird. Die Überwindung dieser Dekadenz kann daher nicht durch eine Rückbesinnung des Menschen auf seine aktiven Kräfte erfolgen, sondern ausschließlich durch eine Selbstzerstörung des Willens zum Nichts, der die Umwertung aller Werte einleitet, indem er seine destruktive Kraft gegen sich selbst wendet. Diese befreiende Selbstzerstörung eröffnet, so das Finale des von Nietzsche übernommenen Narrativs, den Raum für die Ankunft des Übermenschen, der in der Bejahung der ewigen Wiederkunft des Gleichen dem Dasein das größte Schwergewicht verleiht. Diese Affirmation der ewigen Wiederkunft drückt sich laut Deleuze in der Freisetzung intensiver Leidenschaften aus. Der Übermensch bejaht in jedem Augenblick das Viele, die Differenz und den Zufall, ohne Rücksicht auf die beschränkte Perspektive seiner individuellen Ziele, Wünsche und Pläne zu nehmen. Die von Jorge Luis Borges in seiner Erzählung Die Lotterie in Babylon beschriebene Gesellschaftsordnung, in der das Subjekt ausschließlich aufgrund von zufälligen Losentscheidungen Positionen in den sozialen Hierarchien einnimmt (der Zufall bestimmt, ob jemand für einen bestimmten Zeitraum Sklave oder Herr ist), veranschaulicht für Deleuze plastisch das utopische Ideal einer Bejahung der Differenz, des Zufalls und des Vielen im endlosen Zyklus der ewigen Wiederkunft des Gleichen.
Dieses Grundnarrativ entfaltet Deleuze in seinen folgenden Werken im Hinblick auf die temporale Selbsterfahrung des Menschen, seine Subjektentwicklung und die Universalgeschichte der Menschheit, um ihm eine globale Bedeutung zu verleihen. Dabei geht er überraschend systematisch vor, indem er in allen drei Bereichen eine gleichermaßen logische und historische Abfolge von drei Entwicklungsschritten entdeckt, an deren Ende jeweils die Bejahung der ewigen Wiederkunft steht.
- Das menschliche Zeiterleben ist, wie Deleuze in Differenz und Wiederholung erläutert, zunächst durch die Synthese der Gewohnheit („Sukzessionssynthese“) geprägt, die lineare Konnexionen von homogenen Termen herstellt. In dieser Zeitform, die Deleuze auf den Namen „Chronos“ tauft, ist das menschliche Selbsterleben von einer deprimierenden Langeweile erfüllt, die das Subjekt durch die Zeitform der „Mnemosyne“ zu überwinden versucht. In dieser zweiten Synthese der Zeit („Koexistenz- oder Koordinationssynthese“) lässt Eros in der Erinnerung des Subjekts heterogene Serien in Resonanz treten. Die chronologische Abfolge von homogenen Augenblicken koexistiert in der Erinnerung mit einem immer schon verlorenen Ursprung, der als transzendenter Sehnsuchtsort für die Befreiung vom Zwang der Zeitlichkeit fungiert. Diese Jenseitssehnsucht wird schließlich in der Synthese des Thanatos („disjunktive Synthese“) überwunden, deren Zeitform „Äon“ heterogene Serien in eine radikale Disjunktion eintreten lässt. In dieser Zeitform, die Deleuze mit der ewigen Wiederkunft des Gleichen zusammenfallen lässt, wird das Viele, der Zufall und die Differenz in der Wiederholung bejaht, sodass die sich in den beiden anderen Synthesen ausdrückende Lebensverneinung verwunden wird.*
- In Logik des Sinns strukturieren diese drei Synthesen (unter anderen Bezeichnungen) die menschliche Sexualentwicklung, die Deleuze im Anschluss an Freud, Melanie Klein und Jacques Lacan als determinierenden Faktor der Subjektkonstitution betrachtet. Während die Konnexion homogener Intensitäten im Umfeld einer erogenen Zone die prägenitale Sexualität bestimmt (Prinzip der Homogenität), lässt die phallische Sexualität mithilfe des Phallus als imaginärem Bild die verstreuten Intensitäten und erogenen Zonen in der genitalen Sexualität konvergieren (Prinzip der Heterogenität). Schließlich zerstört die symbolische Kastration diese Koordination der Intensitäten zugunsten einer scharfen Disjunktion (Prinzip der Verzweigung), die den Körper als genießende Substanz und den Geist mit seinen unkörperlichen Sinneffekten radikal scheidet. Dieser letzte Schritt steht laut Deleuze unter der Gefahr, dass die Sublimation misslingt, das heißt, dass das Subjekt das sich in der ewigen Wiederkunft des Gleichen niederschlagende Prinzip der Verzweigung nicht zu bejahen vermag und daher auf die mit dem Ödipuskomplex verbundene Phase der genitalen Sexualität zurücksinkt.**
- Diese Bedrohung findet sich in analoger Form in dem mit Félix Guattari gemeinsam verfassten Anti-Ödipus in Bezug auf die Universalgeschichte. Auf deren erster Stufe („wilde“ Gesellschaftsformationen) herrscht das Prinzip der Homogenität vor, das heißt der Produktion in lokalen Stammesgemeinschaften, die durch komplexe Praktiken (Krieg, rituelle Opfer) versuchen, die Zentralisierung von Macht zu verhindern. Auf der zweiten Stufe der Menschheitsgeschichte („barbarische“ Formation) erhebt sich ein transzendenter Staatsapparat über die lokalen Stammesgemeinschaften, deren Produktion er nach seinen Bedürfnissen verteilt. Diese mit der Monopolisierung der Macht einhergehende Fähigkeit zur (bürokratisch organisierten) Distribution von Gütern und sozialen Positionen entsprechend langfristigen Erwägungen und Zielen gerät mit der kapitalistischen Organisation der Wirtschaft („zivilisierte“ Formation) in eine nachhaltige Krise, da sie den Staat der Profitmaximierung der privatwirtschaftlich agierenden Bourgeoisie unterordnet. Der Kapitalismus zerstört auf diese Weise die Koordination von Macht und Reichtum durch den Staat und bewirkt eine starke Zerstreuung sozialer Codes und Hierarchien zugunsten zufälliger, flüchtiger Interaktionsmuster, die vom Geld als generalisiertem Kommunikationsmedium reguliert werden. Aber erst der utopischen Figur des Schizophrenen, die die Intensitätsproduktion der „Wunschmaschinen“ ohne Rücksicht auf die Integrität ihres Ichs bejaht, kann laut Deleuze und Guattari die endgültige Befreiung des Zufalls gelingen, weil die kapitalistische Ordnung das Viele nur insoweit zulässt, als es der Profitmaximierung und Kapitalakkumulation dient.***
Dieses hier in aller Kürze umrissene Beispiel lässt erkennen, dass Deleuze mit einem weitreichenden Narrativ operiert, das vor dem Hintergrund einer Analyse von Leidenschaften und Affekten einen umfassenden Erklärungsanspruch für wesentliche Bereiche der menschlichen Selbsterfahrung erhebt (Logik, Sexual- und Subjektentwicklung, Universalgeschichte) und eine mächtige Sinnstiftung (Befreiung des Menschen vom Nihilismus) anbietet. Dieses im Narrativ der Leidenschaften enthaltene Sinnangebot lässt sich nicht auf das Ziel der Emanzipation oder des absoluten Wissens zurückführen, es kann aber sehr wohl in Hybridnarrativen mit diesen Zielen in Korrespondenz treten. Der Anti-Ödipus ist meiner Einschätzung nach für ein solches Hybridnarrativ ein plastisches Beispiel, denn Deleuze und Guattari operieren zwar einerseits mit marxistischer Terminologie und den Zielvorstellungen des historischen Materialismus (Kapitalismus als letzte Epoche vor der Befreiung des Menschen durch den Kommunismus), sie lassen dieses Narrativ der Emanzipation aber andererseits in einen engen Dialog mit dem Narrativ der Leidenschaften treten, indem sie Wünsche, Affekte und Intensitätsbesetzungen als wesentliche Triebkräfte der Menschheitsgeschichte identifizieren. Ein Kommunist mit einem klaren Bewusstsein für seine Klasseninteressen kann, so eine häufig wiederholte These im Anti-Ödipus, aufgrund unbewusster Ressentiments extrem reaktionär handeln, während ein Philosoph wie Nietzsche, der auf dem Feld der (Bio-)Politik hochproblematische Theorien vertritt, wegen seiner Leidenschaft für das Dionysische einen Wärmestrom freizusetzen vermag, der den befreienden Gedanken einer Bejahung des Diesseits in seiner ganzen Vergänglichkeit seit mehr als hundert Jahren durch die Moderne trägt.
Das Narrativ der Leidenschaften schärft, um zu einem Fazit zu kommen, das Bewusstsein dafür, dass das Subjekt weder in seiner Bildung (der Selbstreflexion des Geistes) noch in seinen politisch-praktischen Interessen (dem Kampf um Emanzipation) aufgeht, sondern von intensiven Leidenschaften erfüllt ist, die jederzeit seine bewussten Ziele und Absichten überfluten und ihnen eine neue Richtung verleihen können. Es erinnert uns daran, dass wir als leidenschaftliche Wesen niemals, auch nicht in den scheinbar von allen Affekten gereinigten Sphären der ‚reinen‘ Erkenntnis oder Moral, aus unseren Interessen das Genießen und die Lust tilgen können, diesen ‚schmutzigen‘ Rest, den zu ignorieren sich kein an Aufklärung interessiertes Denken leisten kann.
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* Die drei Synthesen (Gewohnheit, Eros und Thanatos bzw. Sukzession / Konnexion, Koexistenz / Koordination und Disjunktion / Verzweigung) und die zugehörigen Zeitformen „Chronos“, „Mnemosyne“ und „Äon“ entfaltet Deleuze in Die Wiederholung für sich selbst, dem zweiten Kapitel von Differenz und Wiederholung sowie in Von den esoterischen Wörtern und Vom idealen Spiel, der 7. bzw. 10. Serie der Paradoxa in Logik des Sinns.
** Die drei Prinzipien der Sexualorganisation (Homogenität, Heterogenität und Verzweigung) resümiert Deleuze zu Beginn des Kapitels Über die unterschiedlichen Arten von Serien, der 32. Serie der Paradoxa in Logik des Sinns.
*** Die Unterscheidung zwischen „Wilden“, Barbaren“ und „Zivilisierten“ gliedert den großen universalgeschichtlichen Exkurs im Anti-Ödipus, der die historische Wirksamkeit der „Wunschmaschinen“ analysiert.